Erbscheintücken nach der EU-ErbVO bei deutsch-griechischen Erbfällen

Oder: Χαίρε βάθος αμέτρητον.
Überlegungen zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 21.06.2018 – C 20/17.

Kleine Einführung:

Auf alle Erbfälle, die seit dem 17.08.2015 eingetreten sind und eintreten, findet die europäische Erbrechtsverordnung Anwendung. Eine wesentliche Änderung zum davor geltenden Recht ist, dass für die Antwort auf die Frage nach dem auf einen Erbfall anwendbaren Recht grundsätzlich nicht mehr die Staatsangehörigkeit des Erblassers maßgeblich ist, sondern dessen letzter gewöhnlicher Aufenthaltsort (grundsätzlich deshalb, weil es Ausnahmen gibt und weil der Erblasser zu Lebzeiten die Wahl hat, er kann durch sogenannte Rechtswahl regeln, ob für seinen Erbfall das Erbrecht seines Herkunftslandes oder das Erbrecht des Landes seines gewöhnlichen Aufenthalts gelten soll. Zu dieser – oft dringend anzuratenden! – Wahlmöglichkeit an anderer Stelle mehr). Nach der EU-ErbVO wäre beispielsweise auf den Erbfall eines deutschen Staatsangehörigen, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Griechenland hatte, grundsätzlich griechisches materielles Erbrecht anwendbar. Umgekehrt ebenso. Der Erbfall eines in Deutschland lebenden griechischen Staatsangehörigen unterläge deutschem materiellen Erbrecht. So weit, so gut (oder auch nicht gut, wenn die Ergebnisse unerwünscht sind…. -> Rechtswahl).

Wir schicken euch in die Wüste!

Die europäische Erbrechtsverordnung beschränkt sich aber nicht darauf zu regeln, welches materielle Erbrecht (im Beispiel deutsches oder griechisches… hier sind viele Kombinationen denkbar) anzuwenden ist (also nach welchem Recht die zentralen Fragen „wer erbt wie viel und wie?“ zu beantworten sind). Die EU-ErbVO regelt auch – und darum geht es hier eigentlich – die Zuständigkeit der Gerichte. Also die Frage, bei welchem Gericht beispielsweise ein Erbschein zu beantragen ist, welches Gericht für eine Testamentsanfechtung zuständig ist und vor welchem Gericht die Erben ihren Streit durch alle Instanzen beginnen können. Hierzu steht in Artikel 4 der EU-ErbVO:

„Artikel 4, Allgemeine Zuständigkeit
Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

Und ebenso in der griechischen Fassung:

„Άρθρο 4, Γενική διεθνής δικαιοδοσία

Τα δικαστήρια του κράτους μέλους στο οποίο ο θανών είχε τη συνήθη διαμονή του κατά το χρόνο του θανάτου έχουν διεθνή δικαιοδοσία να εκδικάσουν την υπόθεση κληρονομικής διαδοχής στο σύνολό της.“

Die Frage danach, welches Gericht bzw. welche Gerichte zuständig sind, wird nach der EU-ErbVO also nach denselben Kriterien beantwortet, wie die Frage nach dem materiell anwendbaren Recht. Es sind die Gerichte des letzten gewöhnlichen Aufenthaltsortes zuständig. Hatte der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort also in Griechenland, sind griechische Gerichte zuständig.

An der Stelle erweitere ich den Beispielfall etwas: Man stelle sich einen vermögenden deutschen Staatsangehörigen vor, dessen Kinder und Enkel in Deutschland oder auf der ganzen Welt verstreut leben, aber nicht in Griechenland. Und weil Griechenland auch für diesen beispielhaften Erblasser schon immer Sehnsuchtsland war, entscheidet er sich, die weiteren Jahre dort zu leben. Vielleicht im Pilion, auf Korfu, in Athen oder Thessaloniki. Griechenland wird sein ungewöhnlicher „gewöhnlicher Aufenthalt“. Und auch das Land, in dem er stirbt. Die Erben sollen in diesem Beispielfall weder Griechisch sprechen, noch sonst einen Bezug zu Griechenland haben. Weiter soll sämtliches Immobilien- Geld- und sonstiges Vermögen in Deutschland belegen sein.

Führt Artikel 4 ErbVO in einem solchen Fall tatsächlich dazu, dass die Erben vor einem Gericht in Griechenland einen Erbschein beantragen müssten oder vor einem Gericht in Griechenland einen Erbstreit führen müssten? Gibt es da wirklich keine Möglichkeit, die Sache in Deutschland zu regeln und die Erben nicht in ein fremdes Land, eine fremde Sprache und in fremdes Recht zu jagen?

Gibt es da keine Möglichkeit, die Sache in Deutschland zu regeln? Oder: Was ist mit dem gegenständlich beschränkten Erbschein?

Eigentlich gibt es diese Möglichkeit. Auf den ersten Blick. Der erste Blick führt zu drei nationalen (deutschen) Vorschriften:

§ 352c und  §§ 343 105 FamFG (FamFG ist die Abkürzung für den sperrigen Titel „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“, wobei die Vorschriften dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuzuordnen sind).

Aus § 352c FamFG ergibt sich, dass es grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung eines gegenständlich beschränkten Erbscheins unter bestimmten Voraussetzungen geben kann. Aus §§ 343, 105 FamFG ergibt sich, welches Gericht örtlich (§343 FamFG) zuständig ist und ob ein deutsches Gericht international (§ 105 FamFG) zuständig ist.

Sehr vereinfacht steht in den Vorschriften, dass das Amtsgericht Schöneberg in Nachlasssachen für die Erteilung eines gegenständlich beschränkten Erbscheins örtlich zuständig ist, wenn der Erblasser deutscher Staatsangehöriger war und Vermögen in Deutschland existiert und dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte immer dann besteht, wenn ein deutsches Gericht örtlich zuständig ist.

So weit, so vermeintlich klar! Danach müsste ein gegenständlich beschränkter Erbschein ja vor dem Amtsgericht Schöneberg in Berlin beantragt werden können, niemand müsste in ein fremdes Land mit fremder Sprache und fremdem Recht.

Aber was ist mit dem eindeutigen Widerspruch zur Regelung in Artikel 4 der EU-ErbVO, in der es ja heißt: „Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“ ? Das haben Gerichte jetzt beantwortet:

Zunächst hatte das Amtsgericht Schöneberg, vor dem in einem vergleichbaren Fall ein gegenständlich beschränkter Erbschein beantragt war, entschieden:

„Nein, wir können keinen gegenständlich beschränkten Erbschein erteilen, wir sind wegen Artikel 4 EU-ErbVO unzuständig, es existiert keine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte“.

Hiergegen legte der Antragsteller ein Rechtsmittel ein, weshalb das Kammergericht Berlin zu entscheiden hatte.

Das Kammergericht Berlin war der Meinung, das nicht selbst entscheiden zu wollen und hat die Frage in einem sogenannten Vorlagebeschluss zur Vorabentscheidung an den Europäischen Gerichtshof gestellt (wenn Unklarheit über die Auslegung oder Anwendbarkeit europäischen Rechts besteht, haben die nationalen Gerichte die Möglichkeit, eine Vorabentscheidung zu einzelnen Fragen vom Europäischen Gerichtshof zu erbeten, sogenannter „Vorlagebeschluss“). Das Kammergericht Berlin hat den Europäischen Gerichtshof gefragt:

„Ist Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 [die Erb-VO] dahin auszulegen, dass damit auch die ausschließliche internationale Zuständigkeit für den Erlass der nicht vom Europäischen Nachlasszeugnis ersetzten nationalen Nachlasszeugnisse in den jeweiligen Mitgliedstaaten (vgl. Art. 62 Abs. 3 der Verordnung Nr. 650/2012) bestimmt wird, mit der Folge, dass abweichende Bestimmungen der nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse – wie z. B. in Deutschland § 105 FamFG – wegen Verstoßes gegen höherrangiges Europarecht unwirksam sind?“

Hierauf hat der Europäische Gerichtshof ganz klar mit geantwortet: Ja, so ist Art. 4 der EU-ErbVO zu verstehen. Von Art. 4 abweichende Regelungen im nationalen Recht sind unwirksam. Hier nachzulesen.

Es existiert damit in vergleichbaren Fällen keine Zuständigkeit deutscher Gerichte und keine Möglichkeit, einen gegenständlich beschränkten Erbschein für in Deutschland belegenes Vermögen zu beantragen.

Das Amtsgericht Schöneberg hatte Recht. Erben sind in vergleichbaren Fällen also unter Umständen gezwungen, sich im fremden Land in fremder Sprache und unter fremdem Recht um die Regelung des Nachlasses zu kümmern.

Gleiches dürfte für in Griechenland lebende Erben gelten, deren Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, wenn Vermögen und Immobilien in Griechenland im Erbe sind und die Beantragung eines Erbscheins erforderlich werden sollte. Der Erbschein wird dann regelmäßig in Deutschland zu beantragen sein.